What You See Is What You Get!
“Ein Ding hat drei Seiten; eine, die du siehst, eine, die ich sehe und eine, die wir beide nicht sehen.”
(Chinesisches Sprichwort)
Mit ihrer Malerei spielt Sabine Pfeifer auf ein weitverbreitetes Vorurteil an: Zur malenden Frau gehören die Blumenstilleben wie die Autoleidenschaft zum deutschen Mann. Mit ironischer Distanz wehrt sie sich gegen derartige Festlegungen, läßt sich von der Mitwelt (“mainstream”) das Verhalten nicht vorschreiben. Und hat keine Skrupel, die Vorstellungen vom klassisch Schönen mit Ansichten von kultivierten Zimmerpflanzen, wie sie in Gartencenterprospekten auftauchen, zu durchkreuzen.
Sabine Pfeifer stellt das Selbstverständliche in Frage. Konfrontiert hintergründig spöttisch den Betrachter mit anderen Betrachtungsweisen. Ihr bevorzugtes Motiv – die Blumen – ist eigentlich zweitrangig. Worauf es ihr ankommt, ist das Auflösen der Form/Bestimmtheit in die Formlosigkeit/Unbestimmtheit. Damit der Suchbewegung und der Freiheit des Betrachters größere Möglichkeiten eingeräumt werden können.
Sehr plausibel läßt sich dieser Entzug der Form in “Hell Angel” nachvollziehen. Was man zunächst sieht, ist eine unbestimmte Erscheinung. Man bekommt keine Hilfestellung für eine Identifizierung als Blume. Ähnlich wie bei teilweise unscharfen oder doppelbelichteten Fotografien muß sich das Auge erst allmählich akkommodieren. Hat man die richtige Einstellung gefunden, ist der Ausschnitt entweder verwischt oder so groß, daß man nur Farbe “erkennt”. Einmal ist das Auge zu nah, das andere Mal zu weit weg. Was nicht gelingt, ist eine eindeutige “Scharfstellung”.
Aber genau auf diesen Entzug der “Begreifbarkeit” kommt es Sabine Pfeifer an. Sie will ja die Phantasietätigkeit des Betrachters aktivieren. Sein Blick soll offener und zwiespältiger werden. Er soll den “Engel” (die Blume als Symbol des Glücks, der Liebe, der Harmonie), aber auch die “Hölle” sehen (die Nachtseite der Kultivierung, die Zerstörung von Natur): What You See Is What You Get!
Franz Littmann
... Das schien Alice eine gute Gelegenheit, sich aus dem Staub zu machen; sogleich lief sie los und rannte, bis sie ganz matt und atemlos war und den Hund nur noch schwach in der Ferne bellen hören konnte.
"Trotzdem war er ein süßer kleiner Hund!" sagte sie, während sie sich gegen eine Butterblume lehnte und sich mit einem Blatt Kühlung zufächelte. "Ich hätte ihm gern ein paar Kunststücke beigebracht, vorausgesetzt, daß ich dazu groß genug gewesen wäre. Ach du meine Güte, ich hab fast vergessen, daß ich unbedingt größer werden muß! Wie soll ich das nur anstellen? Wahrscheinlich muß ich irgendwas essen oder trinken. Aber was? Das ist die Frage."
Das war wirklich die Frage. Forschend betrachtete Alice sämtliche Blumen und Gräser in ihrer näheren Umgebung, vermochte aber nichts zu entdecken, was etwa zum Essen oder Trinken geeignet wäre. Unweit von ihr entfernt stand ein Pilz, ungefähr so groß wie sie. Sie ging zu ihm hin, musterte seinen Hut von unten, spähte rechts und links an seinem Stengel vorbei, warf einen Blick hinter ihn und dachte dann, daß sie ebensogut mal nachsehen könnte, was oben drauf wäre.
Sie stellte sich also auf die Zehenspitzen und lugte über den Rand. Da begegnete ihr Blick dem einer großen blauen Raupe, die mit gekreuzten Armen auf dem Pilzhut saß, gelassen eine lange Wasserpfeife rauchte und nicht die geringste Notiz von Alice oder sonstwem nahm.
Die Raupe und Alice starrten sich ein Weilchen wortlos an.
Dann nahm die Raupe die Pfeife aus dem Mund.
"Wer bist du?" erkundigte sie sich gelangweilt und mit schläfriger Stimme.
Diese Eröffnung der Unterhaltung war nicht gerade ermutigend. "Ich weiß es nicht so genau, mein Herr", antwortete Alice ziemlich kühl, "wenigstens augenblicklich nicht. Ich weiß, wer ich war, als ich heute morgen aufstand, aber ich glaube, daß ich mich seitdem mehrfach verwandelt habe."
"Was meinst du damit?" fragte die Raupe streng. "Erkläre dich deutlicher!"
"Ich fürchte, daß ich mich nicht erklären kann, mein Herr", erwiderte Alice. "Denn sehen Sie ich bin nicht ich."
"Das sehe ich nicht", stellte die Raupe fest.
Bedauerlicherweise kann ich das nicht klarer ausdrücken", sagte Alice sehr höflich, "denn ich verstehe mich nicht mehr; zudem ist es reichlich verwirrend, an einem einzigen Tage so viele verschiedene Körpergrößen zu erleben."
"Nein, ist es gar nicht", sagte die Raupe.
"Nun, vielleicht haben Sie das noch nicht durchgemacht", setzte Alice ihr auseinander. "Aber wenn Sie sich verpuppen das werden Sie nämlich eines schönen Tages tun müssen und sich danach in einen Schmetterling verwandeln, werden sie sich doch wohl auch ein bißchen merkwürdig vorkommen, nicht wahr?"
"Keine Spur", erwiderte die Raupe.
"Möglich, daß Sie andere Empfindungen dabei haben", gab Alice zu. "Ich weiß nur eines ich komme mir jedenfalls sehr merkwürdig vor."
"Ja, du!" murmelte die Raupe verächtlich. "Aber wer bist du denn eigentlich?"
Lewis Carroll
Alice im Wunderland |